Die Seele
Ich habe mich tagelang gefragt, was ich zu dem Bild sagen soll. Was ich fühle, wenn ich es mir ansehe. Und genau so lange fiel mir einfach nichts ein. Null. Ich fühlte etwas, doch ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich war zu gefangen in meinen täglichen Aufgaben: als Mutter, als Frau, Freundin, Arbeitnehmerin. Die einzigen Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, waren, wann ich mein Kind abholen soll. Was kochen wir heute? Sollen wir heute raus? Geschweige denn das ganze Datenschutzgeschwafel, mit dem ich mich täglich auseinandersetze. Es sind normale Gedanken von jedem, der Familie und Beruf hat. Ich fand in diesen Gedanken keine Inspiration, etwas „Schönes“ zu dem noch schöneren Foto zu sagen. Es war, als würde ich ein bekanntes Gesicht sehen, es aber niemanden zuordnen können. Déjà-vu. Ich wusste vom ersten Blick, dass ich mich mit dem Bild identifizieren kann (ich habe es ja schließlich ausgewählt), doch ich wusste nicht, was es war. Und dann, abends im Bett liegend, kurz vor dem Einschlafen, fand ich die Antwort, genauer gesagt, die Ruhe. Dieses Bild vermittelt mir die Ruhe, die man im Laufe der Tage nicht finden kann. Man erfüllt so viele Aufgaben, sodass man sich selber vergisst, verliert. Und dieses Bild erinnert mich immer wieder daran, dass man mit sich selbst im Reinen bleiben soll. Nicht untergehen darf. Nicht die Seele verlieren darf, während man wie eine von Millionen kleinen Ameisen tag täglich seinen Aufgaben nachgeht.
Jetzt verstehe ich, warum ich keine Inspiration gefunden hatte. Es drehten sich hunderte Gedanken um das Bild in meinem Kopf und ich kam nicht zum Nenner. Weil ich keine ruhige Sekunde hatte, um mich in mich selbst zu vertiefen, um mich zu fragen, was ich fühle. Ich hatte einfach keine Zeit dafür. Früher saß ich oft alleine und vertiefte mich in jede Ecke meiner Seele. Es ist beruhigend und erfüllend - man weiß, wer man ist. Mit Beruf und Familie und all den Verantwortungen, denen alle Erwachsenen so bemüht sind gerecht zu werden, werden schönste Seelen verdrängt. Menschen werden Roboter, sie haben keine Zeit mehr für die Seligkeit. Und wehe man weicht von den gesellschaftlichen Ansprüchen ab. Doch auch so versuche ich immer wieder abends in mich hinein zu horchen. Oft höre ich gar nichts, als ob mir meine Seele nichts mehr zu sagen hätte. Dabei bemühe ich mich als Mutter jeden Tag, meinem Nachkömmling zu verklickern, dass er ein kleiner Mensch ist und dass er eine Seele hat. Jetzt frage ich mich, wie das nun möglich sein kann, während ich meine eigene Seele in die hinterste Ecke meines Daseins im ganzen täglichen Trubel stetig verdränge?
Dieses Foto vermittelt mir diesen Moment der Ruhe, der inneren Ruhe, wenn man mit sich im Reinen sein kann, wie der Himmel mit dem Meer. Gefühlt gab das Bild mir die Luft zum Aufatmen nach einem „stinknormalen“ Tag. An diesem Abend konnte ich zwar erschöpft, aber mit Gefühl der Vollkommenheit einschlafen.
Anfangs habe ich erwähnt, dass mir das Gefühl beim Anblick dieses Bildes so bekannt und persönlich vorkam, doch ich nicht erkannt habe, welches Gefühl es war. Jetzt weiß ich es – das Bild hat eine Seele. Eine Seele, wie die meine ist. Eine Seele, wie jeder seine hat.